Praxishinweis: Pflichtteilsanspruch trotz Erbanspruch
Zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehören die Abkömmlinge des Erblassers, der Ehepartner und wenn es keine Abkömmlinge gibt, auch die Eltern, sofern diese zum Zeitpunkt des Todesfalls noch leben.
Was in der Praxis häufig übersehen wird ist, dass selbst der Erbe, der zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehört und durch testamentarische Verfügung als Erbe eingesetzt wurde, Pflichtteilsansprüche und Pflichtteilsergänzungsansprüche haben kann. Der Grund dafür liegt darin, das mit der testamentarischen Erbeinsetzung der Pflichtteilsanspruch nicht verloren geht.
In der Praxis gibt es Konstellationen, in denen Erblasser zu Lebzeiten Vermögen an Dritte oder innerhalb des Kreises der pflichtteilsberechtigten Abkömmlinge Vermögen an diese übertragen hat, so dass zum Zeitpunkt des Erbfalls weniger Vermögen vorhanden ist. Wird man nun durch testamentarische Verfügung als Erbe eingesetzt und erhält faktisch die Hälfte des Nachlasses, so kann sich für den Erben dennoch die Frage stellen, ob ihm weniger zugewendet wurde, als ihm im Rahmen des Pflichtteilsrechts zustehen würde, wenn beispielsweise die Schenkungen und Zuwendungen an Dritte und andere pflichtteilsberechtigte Miterben, dem Nachlass im Rahmen der fiktiven Nachlassermittlung hinzugerechnet werden würden.
Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen:
Es gibt zwei Abkömmlinge, beide erben 50 % des Nachlasses aufgrund testamentarischer Verfügung. Der Nachlass hat einen Wert von 100.000,00 €. Beide erhalten rein testamentarisch also jeweils 50.000,00 €. Die Pflichtteilsquote liegt bei der Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs, bei zwei Abkömmlingen also bei jeweils 25 %, so dass Pflichtteilsanspruch pro Abkömmling bei 25.000,00 € liegen würde.
Hat nun der Erblasser beispielsweise 1.000.000,00 € im Jahr vor seinem Tod an den anderen Abkömmling verschenkt oder zugewendet, so ist nach den Regelungen der §§ 2315, 2316 BGB und §§ 2325 und 2326 BGB dieser Wert dem Nachlass hinzuzurechnen und es wäre zu ermitteln, wie hoch dann der Pflichtteilsanspruch und Pflichtteilsergänzungsanspruch des nicht bedachten Abkömmlings, der aber testamentarisch Erbe des Erblassers wurde, wäre. Der Nachlass wäre dann 1.100.000,00 € mit der Folge, dass der Pflichtteilsanspruch und Pflichtteilsergänzungsanspruch dann insgesamt 275.000,00 € beträgt. Damit übersteigt der so kalkulierte Nachlasswert bezüglich des Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsanspruchs den aufgrund der testamentarischen Erbfolge angesetzten Wert um 250.000,00 €, so dass noch ein Ausgleichsanspruch von 250.000,00 € besteht.
Mit diesen in der Praxis häufig übersehenen Regelungen wird der Pflichtteilsanspruch trotz Anfalls der Erbschaft in dem Umfang gewahrt, wie das Pflichtteilsrecht als unentziehbare Beteiligung am Nachlass des Erblassers grundrechtlich geschützt ist.
Dr. jur. Christian Kasten
Eingestellt am 15.05.2023