Gewöhnlicher Aufenthalt bei Verbringung eines Demenzkranken ins Ausland
Der Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe befasst sich mit der internationalen Zuständigkeit deutscher Nachlassgerichte gemäß Art. 4 der Europäischen Erbrechtsverordnung (EuErbVO) bei einem Erblasser, der in einem ausländischen Pflegeheim verstorben ist. Im Mittelpunkt steht die unionsautonome Auslegung des Begriffs des „gewöhnlichen Aufenthalts“.
Der Erblasser war deutscher Staatsangehöriger und verstarb 2023 in einem Pflegeheim in Polen. Aufgrund zunehmender Demenz wurde er zunächst in deutschen Pflegeheimen und ab April 2023 in einem polnischen Pflegeheim untergebracht, da die Kosten für eine Betreuung in Deutschland nicht tragbar waren. Der Erblasser hatte keine Bindungen zu Polen, er sprach kein Polnisch, besaß dort kein Vermögen und hatte keine sozialen oder familiären Verbindungen dorthin. Seine Ehefrau hatte ihn gegen oder ohne seinen Willen nach Polen gebracht. Sein gesamtes Vermögen befand sich in Deutschland. Das Amtsgericht hatte den Antrag auf Erteilung eines Erbscheins mangels internationaler Zuständigkeit abgelehnt, da es davon ausging, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers zum Zeitpunkt seines Todes in Polen lag. Die Beschwerde der Ehefrau hatte jedoch Erfolg.
Das OLG Karlsruhe entschied, dass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gegeben ist, da der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers weiterhin in Deutschland lag. Der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ wird im Rahmen des Rechts der Europäischen Union bezogen auf Verordnungen unionsautonom ausgelegt und erfordert eine Gesamtbeurteilung objektiver und subjektiver Kriterien. Zu den objektiven Kriterien zählt der tatsächliche Aufenthalt (körperliche Anwesenheit), wobei eine vorübergehende Abwesenheit unschädlich ist, sofern ein Rückkehrwille bestand. Zu den subjektiven Kriterien zählt der Bleibewille, also der Wille, den Lebensmittelpunkt dauerhaft zu verlegen. Im vorliegenden Fall fehlte es an einem Bleibewillen des Erblassers in Polen. Die Unterbringung erfolgte allein aus finanziellen Gründen und nicht mit dem Ziel, einen neuen Lebensmittelpunkt zu begründen. Der Erblasser hatte keine persönlichen oder sozialen Bindungen zu Polen.
Das OLG hob den Beschluss des Amtsgerichts auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück. Es stellte fest, dass das Amtsgericht Singen örtlich zuständig sei, da der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers zum Todeszeitpunkt weiterhin in Deutschland lag.
Der Beschluss verdeutlicht die Bedeutung einer differenzierten Betrachtung bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen grenzüberschreitender Erbfälle.
OLG Karlsruhe, Aktenzeichen 14 W 50/24, Beschluss vom 22.07.2024, eingestellt am 15.12.2024