Latente Steuerlast im Pflichtteilsrecht
Die Frage der Berücksichtigung latenter Steuerlasten im Pflichtteilsrecht ist seit Jahrzehnten umstritten und wurde in der Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich behandelt. Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 26. April 1972 (IV ZR 114/70) bildet eine wichtige Grundlage für die Diskussion, doch auch neuere Entwicklungen sind zu berücksichtigen.

Grundlagen der Rechtsprechung
Der BGH hat in seinem Urteil von 1972 entschieden, dass latente Steuerlasten keine abzugsfähigen Nachlassverbindlichkeiten darstellen. Diese Belastungen seien grundsätzlich von den Erben zu tragen, da sie erst durch deren Handlungen (z. B. Veräußerungen) ausgelöst werden. Eine pauschale Berücksichtigung latenter Steuern bei der Pflichtteilsberechnung wurde abgelehnt.

Neuere Entwicklungen
In der jüngeren Rechtsprechung und Literatur wird die Berücksichtigung latenter Steuerlasten differenzierter betrachtet.

Latente Steuern als Bewertungsfaktor: Es wird zunehmend argumentiert, dass latente Steuerlasten bei der Bewertung des Nachlasses berücksichtigt werden können, wenn eine Veräußerung des Nachlassgegenstands wahrscheinlich ist oder unmittelbar bevorsteht. Dies gilt insbesondere für Unternehmen oder Wertpapiere mit stillen Reserven, deren Veräußerung steuerpflichtige Gewinne auslösen würde.

Keine generelle Abzugsfähigkeit: Eine pauschale Reduktion des Nachlasswerts um latente Steuern wird weiterhin abgelehnt, da diese Belastungen nur unter bestimmten Umständen tatsächlich entstehen. Rein hypothetische Steuerlasten sind nicht berücksichtigungsfähig, da sie das Stichtagsprinzip verletzen würden.

Unterschiedliche Ansätze im Zugewinnausgleich: Im Zugewinnausgleich werden latente Steuerbelastungen regelmäßig als Veräußerungskosten berücksichtigt, unabhängig davon, ob eine Veräußerung tatsächlich geplant ist. Diese Praxis wird jedoch nicht uneingeschränkt auf das Pflichtteilsrecht übertragen, da die Bewertungsmethoden und Zielsetzungen unterschiedlich sind.

Aktuelle Tendenzen
Die Rechtsprechung bleibt uneinheitlich, und es gibt keine abschließende höchstrichterliche Klärung zur generellen Berücksichtigung latenter Steuerlasten im Pflichtteilsrecht. Die Berücksichtigung hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere davon, ob die Realisierung der Steuerlast absehbar ist (z. B. durch geplante Verkäufe). In der Praxis wird daher häufig eine Prognose aus Sicht des Erbfalls angestellt.

Fazit
Die Berücksichtigung latenter Steuerlasten im Pflichtteilsrecht ist rechtlich möglich, jedoch nur unter engen Voraussetzungen. Sie erfolgt vor allem dann, wenn ein Verkauf der betroffenen Vermögenswerte wahrscheinlich ist und dadurch die Steuerlast tatsächlich entsteht. Eine pauschale Berücksichtigung ohne konkrete Anhaltspunkte bleibt ausgeschlossen. Neuere Urteile und Diskussionen bestätigen diese Linie und betonen die Bedeutung einer einzelfallbezogenen Bewertung.

Dr. jur. Christian Kasten, eingestellt am 07.01.2025