Zu den notariellen Pflichten bei der Aufnahme eines Nachlassverzeichnisses
Die Alleinerbin des Erblassers wurde von den Pflichtteilsberechtigten gerichtlich zur Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses verpflichtet. Sie beauftragte daraufhin einen Notar, der eigene Ermittlungen anstellte, indem er Grundbuchrecherchen durchführte und bei mehreren Kreditinstituten nach Konten des Verstorbenen fragte. Da die Erbin jedoch nur über unzureichende Informationen verfügte und keine vollständigen Kontoauszüge vorlegen konnte, sah sich der Notar außerstande, ein vollständiges Verzeichnis zu erstellen. Er lehnte die weitere Bearbeitung ab und berief sich auf den erheblichen Zeitaufwand und die Unmöglichkeit, alle relevanten Informationen zu beschaffen.
Der Bundesgerichtshof, BGH, entschied, dass der Notar nicht berechtigt war, die Erstellung des Nachlassverzeichnisses zu verweigern. Der IV. Zivilsenat stellte fest, dass der Notar seiner eigenständigen Ermittlungspflicht nicht vollständig nachgekommen war. Insbesondere hätte er weitere Nachforschungen anstellen müssen, beispielsweise durch das Einholen fehlender Kontoauszüge und durch Befragungen zu möglichen Schenkungen des Erblassers in den letzten zehn Jahren vor dessen Tod. Der BGH betonte, dass der Notar auch dann zur Aufnahme des Verzeichnisses verpflichtet ist, wenn verbleibende Unsicherheiten bestehen. Diese Unsicherheiten müsse er im Verzeichnis vermerken und seine Zweifel dokumentieren.
Der BGH bestätigte in seiner Entscheidung den hohen Stellenwert des notariellen Nachlassverzeichnisses für Pflichtteilsberechtigte. Es bietet eine größere Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit als ein privates Verzeichnis des Erben. Daher muss der Notar den Bestand des Nachlasses eigenständig ermitteln und darf sich nicht auf bloße Angaben des Erben oder eine Plausibilitätsprüfung beschränken. Der Notar ist verpflichtet, alle zumutbaren Ermittlungen anzustellen, die ein objektiver Dritter in der Lage des Pflichtteilsberechtigten für erforderlich halten würde.
Der BGH stellte zudem klar, dass hohe Anforderungen an die Ablehnung eines notariellen Nachlassverzeichnisses gestellt werden. Ein Notar darf seine Amtstätigkeit nur in Ausnahmefällen verweigern, etwa wenn zwingende Ablehnungsgründe nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BNotO vorliegen. Der bloße Zeitaufwand oder verbleibende Unklarheiten nach Abschluss der Ermittlungen rechtfertigen keine Ablehnung. Vielmehr muss der Notar den zugrunde liegenden Sachverhalt in das Verzeichnis aufnehmen und seine Zweifel zum Ausdruck bringen.
Die Entscheidung stärkt die Rechte von Pflichtteilsberechtigten erheblich. Sie gewährleistet, dass diese auch bei unvollständigen Informationen über den Nachlass ihren Anspruch auf ein vollständiges Verzeichnis geltend machen können. Gleichzeitig wird klargestellt, dass Erben bei Nichtvorlage eines solchen Verzeichnisses Zwangsmaßnahmen nach § 888 ZPO drohen können. Zusammenfassend hat der BGH mit diesem Beschluss klargestellt, dass ein Notar bei der Erstellung eines Nachlassverzeichnisses umfassenden Ermittlungs- und Dokumentationspflichten unterliegt und diese Tätigkeit nur unter strengen Voraussetzungen verweigern darf.
BGH, Aktenzeichen IV ZB 13/23, Beschluss vom 19.06.2024, eingestellt am 22.11.2024